Nichts und Niemand ist vergessen – 69 Jahre nach der Reichspogromnacht (09.11.2007)

Nichts und niemand ist vergessen!
Wir wollen am 9.November, dieses Jahr der 69. Jahrestag der Reichspogromnacht, der Opfern des Nationalsozialismus gedenken. Wir wollen vor allem anderen unsere Trauer um die Ermordeten zum Ausdruck bringen und uns aber auch im Bewusstsein enormer Verantwortung gegenüber den Opfern, für einen gesellschaftlichen Zustand stark zu machen, in dem eine solch bestialische Tat, wie die industrielle Ermordung von Menschen in Treblinka, Belzec, Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern, unmöglich wird. Dementsprechend begreifen wir es auch als notwendig in aktuelle Erinnerungsdiskurse zu intervenieren, in denen oftmals, unter Ausblendung der Opfer des Nationalsozialismus und der historischen Gegebenheiten, ein eigenes „deutsches Opfersein“ postuliert wird. Ebenso wenden wir uns auch gegen aktuelle Formen von Antiziganismus, Antisemitismus und weiterer Rassismen, deren bloße Existenz, die traurige Einsicht des Shoah-Überlebenden Primo Levi bestätigt: „Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.“
Die Geschichte der Stadt München ist eng verwoben, mit der Geschichte eliminatorisch-antisemitischer Bewegungen, aus denen schlussendlich der Nationalsozialismus hervorging. So gründete sich in München gegen Ende des ersten Weltkriegs die sogenannte „Thule-Gesellschaft“ die sowohl ideologisch, wie auch personell eine Keimzelle des Nationalsozialismus darstellt. Sie vertrat eine mystifizierende Überhöhung eines völkisch definiertem Germanentums, konsequent einhergehend mit einem radikalen Antisemitismus. Alfred Rosenberg, einer der einflussreichsten Ideologen des Nationalsozialismus und Julius Streicher, Herausgeber des NS-Kampfblatts „Der Stürmer“,beide in den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt, waren Mitglied der Thule-Gesellschaft. Am 21.Februar 1919 erschoss ein Student aus dem Umfeld der Thule-Gesellschaft den USPD-Ministerpräsident Kurt Eisner. Auch Adolf Hitler kam bereits 1913 nach München, wohin er auch nach seiner Teilnahme am ersten Weltkrieg zurückkehrte. Hier gründete er am 24.Februar 1920 im Hofbräuhaus die NSDAP. Und auch von hier aus unternahm Hitler zusammen mit General Erich Ludendorff, der zu Ende des ersten Weltkriegs Chef der „Obersten Heeresleitung“ gewesen war, am 9.November 1923, dem 5. Jahrestag der antimonarchistischen Revolution, einen nationalsozialistischen Putschversuch, der an der Feldherrnhalle von Polizeikräften gestoppt wurde. Schon damals nahmen die nationalsozialistischen Putschisten jüdische Menschen in Geiselhaft.
Auch nach der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 hatte München gewissermaßen eine Voreiterrolle in Sachen Diskriminierung und Verfolg von jüdischen Menschen.
Der eingesetzte Oberbürgermeister Fiehler hatte, noch bevor die offiziellen Reichsrichtlinien erschienen, Geschäftsbeziehungen der öffentlichen Hand mit Unternehmen jüdischer Eigentümer unterbunden. Anschließend erstellte die Stadtverwaltung ein Verzeichnis jüdischer Gewerbetreibender, das bei den weiteren Verfolgungen und den sogenannten Arisierungen benutzt wurde.
Auch die vom Reichspropagandaamt initiierte Hetzausstellung mit dem Titel ‚Der ewige Jude‘ fand Münchner Realisatoren und wurde hier als erstes gezeigt. Die Münchner Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße war bereits am 24. Juni 1938 von den Nazis, abgerissen worden, also schon einige Monate vor der Reichspogromnacht, ausgeführt durch die immer noch bestehende Baufirma Leonhard Moll. Der Firmeninhaber gehörte, wie viele andere, zu den Profiteuren der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in München. Zehntausende KZ-Häftlinge mussten für ihn bei Landsberg am Lech Zwangsarbeit leisten. 1990 benannte die Stadt München eine Straße am Hansapark nach Leonhard Moll.
In der Nacht zum 10. November, am zweiten Tag der landesweiten Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wurden in München die beiden noch bestehenden Synagogen in der Reichenbachstraße und der Herzog-Rudolf-Straße angezündet, sowie die Geschäftsräume der Israelitischen Kultusgemeinde verwüstet. Bei jüdischen Geschäften wurden die Schaufenster eingeschlagen und die Einrichtung demoliert, beispielsweise in der Neuhauser- und Kaufingerstraße. Diese durften in der Folgezeit nicht wieder eröffnen, noch bestehende Betriebe mussten ‚schließen‘, d.h. sie wurden arisiert.
Die Reichspogromnacht hatte ihren Ausgangpunkt in München. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hielt am 9.November 1938 im Alten Rathaus eine antisemitische Hetzrede vor Angehörigen der SA. Diese war eine indirekte Aufforderung, jüdischen Geschäfte zu plündern, Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager, wie etwa nach Dachau, zu deportieren, zu vergewaltigen oder schlicht zu ermorden. 30 000 männliche Juden wurden verhaftet und über 400 kamen ums Leben. Die Reichspogromnacht hatte somit eine neue Qualität der Verfolgung, von der Diskriminierung hin, zur physischen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden.
Wir wollen am 9. November den Opfern der Nazis gedenken und an sie erinnern, da uns dieser Tag als historisch markanter Punkt, dem Übergang zur industriellen Vernichtung, erscheint. Die Pogrome gegen jüdische Menschen zeigten mehr als unübersehbar die Absicht der Nazis und der deutschen Mehrheitsbevölkerung jegliche Existenz jüdischer Menschen zu tilgen. In der Beteiligung der deutschen Mehrheitsbevölkerung an den Novemberpogromen, die eben nicht nur ein Werk von SA und SS waren, sticht der „eliminatorische Antisemitismus“ der Deutschen, wie Daniel Goldhagen es nannte, hervor. Das willige, lustvolle Morden an Allen, für die kein Platz in der deutschen Volksgemeinschaft vorgesehen war. So löschten Feuerwehrleute nur dann die brennenden Gebäude, wenn die Flammen drohten auf „arischen Besitz“ überzugreifen, um nur ein Beispiel herauszugreifen. Protest seitens der deutschen Bevölkerung blieb faktisch aus, kaum jemand solidarisierte sich mit den verfolgten Jüdinnen und Juden.
Wir wollen dieses Gedenken nicht zum bloßen Ritual verkommen zu lassen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Vernichtung von Menschen nicht an besondere Daten gebunden ist, sondern die ganzen Jahre über, in furchtbarer Alltäglichkeit stattfand.
Diese Erkenntnis ist unserer Ansicht nach notwendig, um nicht in die Formen des Gedenkdiskurses abzudriften, die zu kritisieren wir antreten. Geschichte darf nicht auf Daten und Termine herunterreduziert werden, die dann ein, zwei mal im Jahr aufbereitet werden können. Gedenken und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen können nur dann ihren emazipatorischen Anspruch aufrecht erhalten, wenn es gelingt Teil der alltäglichen Praxis zu werden.
Geschichtspolitik und auch Gedenkpolitik war oftmals genau eins, nämlich Machtpolitik. Auch dieser Problematik gilt es sich im Gedenken zu stellen. So ist es mittlerweile möglich, sich aufgrund erfolgter Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als geläutert darzustellen, was oftmals nicht nur die Forderung nach einem „Schlußstrich“ miteinschließt, sondern nun auch von einer vermeintlich moralisch-höheren Position aus Machtpolitik betrieben werden, in der die Opfer zu eigenen Zwecken instrumentalisiert werden, um nicht zu sagen „missbraucht“ werden. Beispielhaft hierfür ist die deutsche Kriegsbegründung im Jugoslawien-Krieg, „ein zweites Auschwitz verhindern zu wollen.“ Wir wenden uns massiv gegen solch eine, die Würde der Opfer verhöhnende, Instrumentalisierung. Dementsprechend gilt es auch, das eigene Gedenken selbstkritisch daraufhin zu prüfen, ob es würdevoll an die Opfer erinnert und nicht bloß für das eigene Politkmachen benutzt wird.
Immer öfter werden im öffentlichen Diskurs auch die eigenen, die „deutschen Opfer“, hervorgehoben. Dies geschieht oftmals unter strikter Ausklammerung geschichtlicher Gegebenheiten.
Auf der einen Seite stilisieren sich die Täter von damals, wie beispielsweise durch dasaus dem historischen Zusammenhang gerissene Gedenken an die Opfer des Bombardements auf Dresden, zu unwissenden, unschuldigen Opfern, wohingegen auf der anderen Seite den tatsächlichen Opfern, den Homosexuellen, den Behinderten, den AntifaschistInnen, Sinti, Roma oder jüdischen Menschen, ihr Status als Opfer, mehr und mehr abgesprochen wird. Ebenso wie dessen historische Qualität, der Singularität von Porajmos und Shoah in Frage gestellt wird.
Durch solch eine Relation bzw. Loslösung der eigenen Schuld bzw. der aus der Schuld der hervorgegangenen Generationen resultierende Verantwortung gegen über den Opfern von damals und den potentiellen Opfern von heute, kann viel leichter gegen eben diese gedacht bzw. gehandelt werden. Dort wo mensch sich seinen eigenen (nationalen) Opferstatus zurecht gelogen hat, kann sie/er auch leichter seinen Hass auf die Opfer und deren Nachfahren richten, kann ohne mit der Wimper zu zucken Sinti und Roma diskriminieren, abschieben und verfolgen oder etwa in den Angriffen eliminatorsch-antisemitischer Bewegungen auf jüdische Menschen einen Akt der Emanzipation „erkennen.“
Auch in München gehört das öffentlich Auftreten von Neonazis fast schon zum Alltag. Regelmäßig können diese mehr oder weniger ungestört Infostände, Kundgebungen, Konzerte oder Demonstrationen veranstalten und dabei ihre menschenverachtende Ideologie propagieren. So wollen Nazis am 9.11. abends in der Münchner Innenstadt eine Kundgebung durchführen. Aufhänger soll offiziell der Jahrestag des Mauerfalls sein. Im Jahr 2005 konnten die Nazis, unter dem selben Vorwand, den Hitlerputschisten vom 9.11.1923 gedenken. Dies gilt es dieses Jahr zu verhindern. Ebenso sitzen Nazis mittlerweile auch in mehreren Kommunal- und Landesparlamenten und sie werden auch im kommenden Jahr versuchen, in den bayrischen Landtag bzw. die Rathäuser einzuziehen, indem sie versuchen, sich als „normale“ Alternative darzustellen. Dass das Nazis, deren konsequentes Ziel auch heute noch eine Wiederholung des Mordens in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern ist, keinesfalls als „normal“ akzeptiert werden können, zeigt die Geschichte, aber auch die Tatsache, dass seit 1990 über 100 Menschen in Deutschland von Nazis ermordet wurden.
Eine Konsequenz hieraus kann für uns nur eine alltägliche antifaschistische Praxis sein, die immer die Erinnerung und die Trauer um die Opfer bewahrt und aus eben dieser Verantwortung heraus agiert, ohne jedoch die Opfer als machtpolitische Instrumente zu missbrauchen.
Für ein würdiges Gedenken und Trauern um die Opfer des Nationalsozialismus!
Für ein entschiedenes und offensives Vorgehen gegen Antisemiten, Rassisten und Nazis!
9. November 2007
Antifaschistischer Stadtrundgang | 17 Uhr Königsplatz
Anschließend Aktionen gegen die Nazikundgebung