10 Jahre später

Kein Schweigen nach dem NSU

Am 4. November 2021 jährt sich die Selbstenttarnung des NSU zum 10ten mal. 2011 erschossen sich die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem missglückten Überfall in einem Wohnmobil in Eisenach – am selben Tag zündete Beate Zschäpe die konspirative Wohnung an und stellte sich wenig später der Polizei.
Im Zeitraum 2000 bis 2007 ermordete der Nationalsozialistische Untergrund 9 Menschen aus rassistischen Motiven. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Ihr letztes Opfer war die Polizistin Michèle Kiesewetter. Viele weitere Menschen wurden verletzt und traumatisiert.

Die Ermittlungstaktik der Behörden war geprägt durch rassistisch motivierte Verdächtigungen im unmittelbaren Umfeld der Betroffenen. Flankiert von medialer Berichterstattung, die gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen und die Aussagen der Polizei unkritisch übernahm, diese teils noch voyeuristisch ausschmückte, tat diese Kombination ihr übriges, um die Wirkung der Taten noch zu verstärken. Der rassistische Gehalt der Mordtaten und Anschläge wurde nicht in Betracht gezogen bzw. verleugnet. Die Betroffenen, die Opfer, ihre Angehörigen, Freund_innen und ihr Umfeld wurden hingegen verdächtigt selber Täter_innen zu sein.

Was sich im NSU-Komplex ausdrückt, ist ein tiefgreifender gesamtgesellschaftlicher Rassismus, der Betroffene nicht sehen und nicht hören will. Als die Angehörigen und Freund_innen von Halit Yozgat, im April 2006 eine Demo unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ durchführten, fand diese in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wenig Anklang. Auch wir als antifaschistische Linke haben die rassistische Mordserie als solche nicht erkannt. Eine Lehre, die wir aus dem NSU ziehen müssen, ist die Notwendigkeit Betroffenen zuzuhören und weitere Positionen in unsere Politik einzubeziehen.

Als das Münchner Oberlandesgericht 2018 – knapp sieben Jahre nach der Selbstenttarnung des Trios – das Urteil im NSU-Prozess verhängte, blieben mehr Fragen als Antworten zurück. Das Netzwerk aus Neonazis und V-Leuten, welches das Trio mit Waffen, Informationen und Geld versorgte, das vom Verfassungsschutz getragen und gedeckt wurde und bis tief in die heutige Neonaziszene reicht, blieb weitestgehend unaufgeklärt und unbehelligt. Die drei Mitangeklagten sind inzwischen wieder frei.

Wo staatliche Stellen alles daran setzten, die Aufarbeitung des NSU-Komplex zu behindern, indem zahllose Akten vernichtet oder gesperrt wurden, man die Persönlichkeitsrechte von V-Leuten verteidigte und nur zögerlich Informationen rausgab, verdanken wir die Infos die wir haben, recherchierenden Antifas, Journalist_innen und wenigen engagierten Personen in parlamentarischen Gremien. Vollumfängliche Aufklärung, die Ermittlung aller involvierter Personen und die Klärung der Rolle des Verfassungsschutzes lassen dennoch auf sich warten.

Die Debatten über institutionellen Rassismus haben nichts an Aktualität verloren. Menschen mit Migrationsbiographie werden von Staat und Behörden tendenziell stigmatisiert und nicht als vollwertiger Teil der Gesellschaft behandelt. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass sich die strukturellen Rahmenbedingungen groß geändert haben, die über alle die Jahre bis zur Selbstenttarnung dazu führten, dass Polizei und Staatsanwaltschaften die Täter_innen primär unter den Opfern suchten.

Der Rassismus der Apparate wird besonders eklatant, wenn aus Polizeidienststellen Mails an migrantische Anwält_innen verschickt und mit „NSU 2.0“ unterzeichnet werden. Kaum eine Woche vergeht, in der keine rechtsradikale Chatgruppe aufgedeckt wird oder sich Beamt_innen mit ihrer allzu offenen Sympathie für nationalsozialistisches Denken hervortun. Wer es wirklich ernst meint im Kampf gegen Nazis und andere Rechte wird früher oder später mit der Polizei in Konflikt geraten. Und das aus Gründen.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass das Trio Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe, in Zwickau über Jahre unbehelligt leben und seine Taten organisieren konnte. Warum erfahren militante Nazis als normale Nachbar_innen so wenig Widerspruch? Die Stadt Zwickau, gesellschaftlich wie politisch, verdrängt ihre wichtige Rolle als Ort des rechten Terrors, als Wirk- und Rückzugsstätte des NSU bis heute. Es ist nicht zu erwarten, dass ein würdiges Gedenken von dieser Stadt ausgeht. Ganz im Gegenteil. Nicht umsonst fühlen sich Unterstützer_innen des NSU wie André Eminger oder Matthias Dienelt, die weiterhin in der Nähe leben, dort pudelwohl.

Am 06.11.2021 wollen wir, in Zwickau, dem Ort der Selbstenttarnung des NSU, der Opfer des NSU gedenken. Gedenken bedeutet in diesem Zusammenhang auch die Fragen nach Aufklärung zu stellen und die Verantwortlichen in Staat, Gesellschaft und dem Ort Zwickau anzuklagen. Es liegt auch an uns, diese Taten nicht zu vergessen, an die Opfer und Überlebenden zu erinnern und dafür zu sorgen, dass Nazis heute und in Zukunft auf den erbitterten Widerstand stoßen, den sie verdienen! Es gilt die gesellschaftlichen Bedingungen zu überwinden, die den NSU-Komplex möglich machten!

6.11.2021 – Antifaschistische Demonstration – 14:00 Uhr in Zwickau (Bahnhof)