Kapitalismus heißt Krise

Das bestimmende Lebensgefühl Ende 2022 ist das des hereinbrechenden Unheils. Die heraufziehende Krise hat noch nicht vollends durchgeschlagen, aber die bereits jetzt spürbaren Ausläufer lassen nichts Gutes erahnen. Mit diesem Text wollen wir dem politisch wie menschlich fatalen Eindruck der Unausweichlichkeit etwas entgegensetzen. Denn das Ende der Welt ist keine ausgemachte Sache. Angesichts der Krisenerscheinungen rufen wir auf zum unversöhnlichen Protest, zum selbstorganisierten Widerstand gegen das kapitalistische Elend und für eine befreite Gesellschaft.

Die letzten Jahre waren gezeichnet durch ein Zusammentreffen mehrerer Dimensionen sozialer und wirtschaftlicher Krisen. Die aktuelle Teuerungswelle zeigt sich bisher besonders deutlich im Lebensmittel- und Energiebereich, weitere für viele Menschen existentielle Folgeerscheinungen dürften kurz bevorstehen. Wir wollen die Auswirkungen des vom putinistischen Regime Russlands losgetretenen Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen wie Embargos, Boykotte und gesprengte Pipelines auf das Wirtschaftsleben hierzulande nicht kleinreden. Aber wir erleben derzeit nicht einfach nur eine Energiekrise, sondern was es heißt, wenn sich verschiedene Störungen im kapitalistischen Normalbetrieb zu einer multiplen Krise verdichten.

Die explosionsartige Teuerung im Energiesektor trifft derzeit auf die seit 2020 andauernden Lieferengpässe von allerhand unabdingbaren Industriegütern. Gerade Mikroelektronikteile, Chips, etc. sind einfach nicht ausreichend vorhanden. Grund hierfür ist u.a. die Just-in-Time-Produktion, die von vielen Linken lange als sinnvolles, weil äußerst anfälliges Kampffeld prognostiziert wurde. Produktionsnotwendige Güter werden möglichst kostengünstig verteilt um den Globus produziert, um erst bei Bedarf durch aufwendige Logistikketten geliefert zu werden. Das zum Meme geronnene Bild für die Anfälligkeit dieses Systems war der im Suezkanal feststeckende Frachter im letzten Jahr. Neben Schifffahrtskills können aber auch politische Entscheidungen das hochkomplexe Logistiknetz stören und so Milliarden an Wert vernichten. Die Auswirkungen der chinesischen Corona-Politik etwa, wo gigantische Städte, Produktionsstätten und Häfen teils für Wochen komplett heruntergefahren und Bewohner_innen de facto eingesperrt werden, werden die Weltwirtschaft noch lange beschäftigen.

Apropos Corona: Die Pandemie hat global zu umfangreicheren Wirtschaftsrückgängen geführt und mehr Wert vernichtet, als es bspw. in der Weltwirtschaftskrise 2008 der Fall war. Auch für die Menschen fordern fast drei Jahre Vereinzelung, Sorge und Ungewissheit weiter ihren Tribut. Corona hat eine Vielzahl an Ungleichheiten offen zu Tage gelegt und zugespitzt. Als wäre es nicht bereits eh bekannt: die Pandemie hat für Alle unmissverständlich gezeigt, dass Kapitalinteressen mehr zählen, als menschliches Wohlergehen. Das Alles spielt sich ab vor dem Hintergrund des weltweiten ökologischen Abfucks und der realexistierenden Klimakatastrophe, deren Auswirkungen unter den gegebenen Verhältnissen nicht einmal mehr abgedämpft, geschweige denn verhindert werden. Bereits diese unvollständige Aufzählung verschiedener, verzahnter Krisendimensionen verdeutlicht, dass es wenig Sinn macht, die aktuelle Krise nur eindimensional zu verstehen – ganz so als müsste nur eine relativ große Stellschraube zurechtgerückt werden und dann liefe der Laden wieder. Die Krise ist längst zum Normalmodus geworden und bezeichnet keinen Sonderfall mehr.
Anders als es die Chefideolog*innen des Systems gerne verkünden, ist der Kapitalismus keine eigentlich, von ihrer Grundanlage her reibungslos funktionierende Wirtschaftsweise. Vielmehr sind in ihm grundsätzliche Widersprüche angelegt, die ihn immer wieder in Krisen stürzen. So zwingen etwa Konkurrenz und die Jagd nach dem Extraprofit die Einzelkapitale zum immer höheren Einsatz von Maschinen und Co. Menschliche Arbeit als einzige Instanz, die Wert schaffen kann und somit die Quelle von Mehrwert, wird sukzessive wegrationalisiert. Erreicht diese Tendenz zur Überakkumulation ein gewisses Niveau, treten Krisen auf. Die Wachstumsraten brechen ein, Mehrwert kann nicht mehr realisiert werden, Kapital wird vernichtet. Die Folgen für Millionen von Menschen sind Lohnkürzungen, Entlassungen, Armut und Unsicherheit. Diese Dynamik lässt sich nicht durch ein „besseres“ Regieren, durch antizyklisches Gegensteuern oder einen auch von vielen Linken wieder ersehnten Sozialstaat in den Griff kriegen. Einen Kapitalismus ohne Krisen kann und wird es nicht geben. Wer ohne diese Miseren leben will, muss ihn abschaffen.

Die hier skizzierte Dynamik reicht selbstredend nicht aus, um die aktuelle multiple Krise in Gänze zu erklären. Wir erleben eine Verkettung verschiedener Krisendimensionen – allen voran die ökologische Katastrophe zeigt an, dass das kapitalistische System in Bälde auch an seine äußeren Grenzen stoßen dürfte. Doch das Grundproblem der Überakkumulation und geringer Profitraten macht den Industrienationen bereits seit den 1970er Jahren zu schaffen und ist seitdem nicht gelöst. Auch die Ursachen der Krise von 2008, deren Grundprobleme bestenfalls aufgeschoben wurden, sind hierin zu sehen.

Unsere Kritik am Kapitalismus zielt allerdings nicht darauf ab, dass er in relativer Regelmäßigkeit Krisen produziert. Ein rein hypothetischer krisenloser Kapitalismus wäre beschissen genug. Auch der Kapitalismus auf Normalberiebstemperatur, außerhalb krisenhafter Episoden, produziert unfassbares Elend, Armut und ein Leben für Milliarden in Ausbeutung und Abhängigkeit. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das auf Ausbeutung, Konkurrenz, Eigentum und Naturvernutzung basiert, wird niemals in der Lage sein, die Bedürfnisse aller Menschen konstant und sinnvoll zu befriedigen.

Als ein weiterer Aspekt der multiplen Krise wird vielfach eine Krise der politischen Repräsentation konstatiert. Zwar sehen wir angesichts der aktuellen Krise kein großes Revolutionspotential oder eine per se progressive Widerständigkeit heranwachsen. Im Gegenteil, die zwar noch zögerlichen, aber mancherorts intensiven diffus rechten Mobilisierungsbemühungen​​​​​ zwingen zur antifaschistischen Wachsamkeit. Dennoch: Die ideologische Einhegung der Bevölkerung in die bestehenden Verhältnisse gestaltet sich auch zusehends schwierig. Das Märchen, dass Wohlstand für alle erreichbar wäre, glaubt heute niemand mehr. Auch das letzte Versprechen des Kapitalismus, dass sich zumindest, wer genügend Geld auftreibt auch alles, jederzeit kaufen könnte, wird gerade kassiert. Der Kapitalismus schafft es derzeit nicht mal dem zahlungskräftigsten Interesse eine PS5 zur Verfügung zu stellen, von der Rolexkrise in der Münchner Innenstadt gar nicht zu reden.

Auch unabhängig von letztlich irrelevanten Luxusbedürfnissen, die Tage der (relativen) sozialen Sicherheit für breite Teile der Bevölkerung sind angezählt, so wie es ist wird es nicht bleiben. Wir begreifen das langsame Zerbröckeln der Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen als ambivalent. Angesichts der Kräfteverhältnisse und politischen Stimmungen ist ein weiteres Umschlagen in die Barbarei absolut möglich. Aber die Risse im Putz des Systems bieten auch Angriffsfläche für grundsätzliche Systemkritik und antagonistische Agitation. Dass Krisen im Kapitalismus keine Ausnahme, sondern systematisch sind, dass dieses Wirtschaftssystem disfunktional ist, für Millionen Leid und Zerstörung bringt, tritt immer offener zutage.

Doch wie lässt sich dieses Potential in eine emanzipatorische Richtung wenden, wie können wir als radikale Linke davon profitieren? Es gilt weiterhin, es rettet uns kein höheres Wesen, wir müssen das Projekt der gesellschaftlichen Befreiung selber in Angriff nehmen. Seltsam muten somit die bisher auch nur mäßig populären Vorstöße sozialdemokratischer Initiativen und Parteien bzw. ihrer sich als linksradikal missverstehenden Varianten an, die sich als Antwort auf die Krise auch nicht viel mehr als eine Neuauflage keynesianistischer Sozialprogramme vorstellen können. Kein Appellieren an den Staat, seine zivilgesellschaftlichen Apparate, Parteien oder Gewerkschaften wird ernsthaft dazu führen, an den grundsätzlichen Problemen und Übeln dieser Gesellschaft etwas zu ändern. Sinnvoller finden wir es, Basisinitiativen zu stärken und revolutionäre Selbstorganisation von unten aufzubauen. Das ist mühsam, Fehlschläge sind vorprogrammiert, und doch sind diese Anstrengungen Grundbedingung, um die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft überhaupt denken zu können. Wir laden ein zu Kritik und Handgemenge und rufen auf zur Beteiligung an undogmatischen, linken Krisenprotesten!

Ob Ende des Monats oder Ende der Welt:
Kapitalismus ist die Krise – Für die soziale Revolution!