Kontinuitäten brechen

Der NSU-Prozess geht zuende.
Es ist nicht vorbei. 

München 1980, Erlangen 1980, München 1984, Schwandorf 1988, Frankfurt 1992, Mölln 1992, Solingen 1993, Lübeck 1996, Bad Reichenhall 1999, Düsseldorf 2000, Dortmund 2000, Freital 2015, München 2016… Es gibt eine lange und tödliche Tradition rechten Terrors in der Bundesrepublik. Die Mord- und Anschlagserie des NSU reiht sich in diese Geschichte rechten Terrors ein und sticht zugleich hervor. Nicht nur aufgrund der Zahl ihrer Opfer. Die Mordserie des NSU sticht hervor, weil sie über Jahre nicht als rassistische Gewalt, als rechter Terror erkannt wurde, selbst nach den Schweigemärschen von Kassel und Dortmund. Sie sticht hervor, weil staatliche Stellen ihre Mitarbeiter_innen und Informant_innen in dessen engstem Umfeld, in einem Fall sogar am Tatort, hatten und dennoch nicht einschritten.
Die Mord- und Anschlagsserie des NSU blieb unerkannt von einer Gesellschaft, für die Rassismus konstitutiv ist, weil bereits der Modus ihrer Vergesellschaftung rassistisch ist. Die Mordserie des NSU sticht nicht hervor, weil Nazis und Rassist_innen durch Morde Tatsachen schufen. Sie sticht hervor, weil sich hier vieles, was für diese Gesellschaft und diesen Staat elementar ist, auf eine spezifische Weise verdichtete: Eine rassistische Gesellschaft, für die Ausgrenzung und Hass grundlegend sind, rassistische Ermittlungsbehörden, denen es vorrangig darum geht, ihre eigenen Wunschvorstellungen von Law and Order durchzusetzen als Morde zu stoppen und denen die migrantischen Opfer und ihre Angehörigen im Vornherein verdächtig schienen. Ein Geheimdienst, der seiner NS-Kontinuität auch nach über 50 Jahren Bundesrepublik noch zur Ehre gereichte, durch das V-Leute-System aktiv am Aufbau von Neonazistrukturen mitwirkte und Nazitäter_innen und ihr Umfeld aktiv schützte. Eine Presse, deren einem Teil es nicht gelang, die staatlichen Vertuschungen aufzuklären und deren schlechtere Hälfte sich aktiv an der Hetze und Verleumdung der Opfer beteiligte, und eine Zivilgesellschaft, der es weitestgehend nicht gelang, die Hinweise der Betroffenen ernst zu nehmen und Solidarität mit ihnen zu entwickeln.
Sieben Jahre nach der Selbstaufdeckung des NSU, fünf Jahre nach Beginn des NSU-Prozesses, besteht diese gesellschaftliche Konstellation, die die rassistische Mord- und Gewaltserie ermöglichte, weiterhin fort. Wenn wir die Bedingungen überwinden wollen, die den NSU-Komplex möglich machten, müssen wir die Kontinuität dieses gesellschaftlichen Rassismus brechen.
Von Rostock-Lichtenhagen nach Köln-Keupstraße
Deutschland konnte sich lange als Nicht-Einwanderungsland begreifen, weil es die Millionen „Aussiedler“ als Deutsche und die „Gastarbeiter“ als Gäste verstand. Gäste, die wieder zu gehen hatten, wenn sie ihren Nutzen geleistet hatten. Bis zum Fall der Mauer stellten diese beiden Gruppen den größten Anteil derjenigen, die nach Deutschland migrierten. In den neunziger Jahren ändert sich dies grundlegend. Einerseits durch die neue Arbeitsmigration, vor allem aus dem ehemaligen „Ostblock“. Andererseits durch die steigende Anzahl von Asylsuchenden. Politisch und medial wurde dieser Entwicklung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik begegnet und das Schreckensbild einer drohenden „Bevölkerungsexplosion“ gezeichnet. Der Staat reagierte mit einem Kurs der Abschottung, der seinen offensten Ausdruck in der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Jahre 1992 fand. Währenddessen entluden sich die geschürten Ressentiments auf den Straßen in einer beispiellosen Welle der Gewalt gegen Asylsuchende, ehemalige Vertragsarbeiter_innen, Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte und Alle, die als Bedrohung der nationalen Homogenität empfunden wurden. Allein zwischen 1991 und 1993 wurden bei etwa 4.700 Anschlägen mehr als 1.800 Menschen verletzt, 26 verloren ihr Leben. Als in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen in tagelangen pogromartigen Ausschreitungen die Unterkünfte von Flüchtlingen und Vertragsarbeiter_innen mit Brandsätzen attackiert wurden, verwischten die Grenzen zwischen denen, die mit Molotow-Cocktails Häuser in Brand steckten, und jenen, die gafften, applaudierten oder den Benzin-Nachschub organisierten. Die Änderung des Grundgesetzes war eine Bestätigung für all jene, die sich als ausführenden Arm des „Volkswillens“ verstanden. Bis heute steht es prototypisch für den migrationspolitischen Abgrenzungskurs und die alljährlichen Gesetzesverschärfungen. In diese Zeit fällt die politische Sozialisation von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, die sich ab Mitte der Neunziger im Umfeld des „Thüringer Heimatschutz“, einer bundesweit vernetzten Nazi-Struktur um V-Mann Tino Brandt und Ralf Wohleben, einem der Angeklagten im NSU-Prozess organisierten.
Auch die frühen 2000er Jahre waren in Deutschland geprägt von Auseinandersetzungen über Migration und Integration. All den Debatten über „Leitkultur“, Kopftuch und Einbürgerungstest lag die Frage zugrunde, wie Deutschland sich und seine Staatsbürger_innen zukünftig definieren würde. Zur gleichen Zeit begann die Mordserie des NSU. Sein Terror war der Versuch, Fakten zu schaffen gegen eine gesellschaftliche Realität, in der Migration, dauerhafter Verbleib und Teilhabe vom Migrant_innen zur anerkannten Tatsache werden. Eine immer prekäre Anerkennung, die von Migrant_innen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft eingefordert und erstritten werden musste. Die Auswahl der Mordopfer des NSU folgte einem Muster. So richteten sich die Mordanschläge des NSU gegen Männer zwischen 21 und 50 Jahren, fast alle Familienväter, die den Nazis als Gewerbetreibende gerade durch ihre „Integration“ als besondere Bedrohung des „Volkskörpers“ galten. Sie lebten hier, wollten dauerhaft bleiben und schufen sich ihre ökonomische Basis dafür. Sie gründeten Familien und trugen in den Augen der Nazis so zur „Überfremdung“ Deutschlands bei. Auch die Sprengstoffanschläge richteten sich gegen Gewerbetreibende. Im Falle der Kölner Keupstraße geriet ein ganzer Straßenzug ins Visier, der über die Stadtgrenzen hinaus als Symbol migrantischen Lebens in Deutschland galt und gilt.
Dresden, Freital, Berlin: Bundestag
Aktuell ist die Einwanderung und der Umgang mit ankommenden Menschen wieder das zentrale Thema in Deutschland. Und auch heute setzen einige ihren Hass in konkrete Taten um. Neben nur scheinbar unorganisierten und spontanen Gewaltausbrüchen, Angriffen und Brandanschlägen, formieren sich klandestin organisierte Gruppen, die mit Terror die Uhr zurückstellen wollen: Sie wollen zurück zu einem Deutschland, das es so nie gab: Ein homogenes, reines, „deutsches Volk“, hermetisch abgeschlossen gegen die Bedrohungen des äußeren und inneren Feinds. Ein Terror, der sein historisches Vorbild in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat.
Die brutale Gewalt findet in einem gesellschaftlichen Klima statt, in dem rechten Positionen wieder hof- und salonfähig geworden sind: in Zeitungsschlagzeilen, in Talkshowsesseln und in den Parlamenten. Mit der AfD ist ein politischer Akteur rechts der Union entstanden, mit dem „man reden kann“ und der dem rassistischem Mob gerne die ersehnte Bestätigung gibt. Die beständige Radikalisierung der AfD hat ihren Wahlerfolgen bisher keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil: AfD und rechte Bewegungen stehen aktuell besser da als je zuvor. Nicht trotz martialischer Rhetorik und offenem Gewaltaufruf, sondern gerade wegen. Sie mobilisiert diejenigen, die nachts davon träumen, selbst die Waffe in die Hand zu nehmen oder doch zumindest von den guten Plätzen aus zusehen zu dürfen. Die beständigen Beschwörungen des Bürgerkriegs und der gewaltsamen Selbstermächtigung der Höckes und Kubitscheks stehen den Schundromanen, an deren Verherrlichung eines race war die Generation des NSU sich aufgeilte, in nicht allzu viel nach. Die AfD gewinnt Land in den gesellschaftlichen Debatten, streicht ihre Ausschlusslisten zusammen und erweitert ihre Abschusslisten. Während sich die rassistische Hetze lange in erster Linie gegen Geflüchtete richtete oder „Islamisten“ als Chiffre für „die Anderen“ herhielten, nimmt die Partei aktuell türkeistämmige Menschen ins Visier. Dahinter steckt mehr als die Lust, auf noch mehr Minderheiten herumhacken zu können. Wenn die AfD-Vorsitzende erklärt, Deniz Yücel sei ungeachtet seiner Staatsbürgerschaft kein Deutscher und ein Poggenburg „Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“ ins Bierzelt schreit, so ist das nicht übers Ziel hinausgeschossen, sondern kalkuliert. Was den Poggenburgs und Weidels der Nation nämlich im Gegensatz zu all jenen klar ist, die der AfD mit (Volks-)Aufklärung über ihren Charakter beikommen wollen: Mit offenen Worten und offenem Rassismus lässt sich in Deutschland ordentlich punkten. Gerade türkeistämmige Einwohner_innen gelten rassistischer Agitation als Menschen, denen es höchstens zum „Passdeutschen“ gereicht, die auch im Besitz der Staatsbürgerschaft unveränderbar fremd, auf jeden Fall aber potentiell unzuverlässig bleiben.
Für etwas besseres als die Nation
Jedem Versuch, Menschen rassistisch aus der Gesellschaft auszuschließen, muss radikal widersprochen werden. Es reicht nicht aus, sich für „Integration“ auszusprechen. Denn so sehr die Einforderung von Respekt, Teilhabe und fundamentalen Rechten Unterstützung verdient, sowenig darf dabei aus den Augen verloren werden, was für gewöhnlich gemeint ist, wenn das Schlagwort der „Integration“ in den Raum gestellt wird. Wenn über die „Integration“, also den Einschluss von Menschen in die Gesellschaft, in der sie leben, gesprochen wird, so steht der Begriff in der Regel für eine zu erbringende Leistung. Die Integration galt und gilt weniger als ein Angebot der gesellschaftlichen Teilhabe, sondern impliziert vielmehr die Aufforderung zur Assimilation, deren Vollständigkeit und Aufrichtigkeit gleichzeitig immer in Zweifel gezogen wird. Integration meint stets auch die Integration in den Ausbeutungs- und Verwertungsprozess der menschlichen Arbeitskraft. Dementsprechend richten sich die Einladungen an künftige „Zuwanderer“ vor allem an Menschen, denen ein Ausgleich von Fachkräftemängeln bzw. die Steigerung der Produktivkraft des Standorts Deutschland zugedacht wird.
Wir wollen uns daher nicht mit Rufen nach einem anderen Staatsbürgerschaftsrecht begnügen oder eine effizientere Assimilierung einfordern. Die Antwort auf die rechte Forderung nach Ausgrenzung, kann nicht die neoliberale Eingrenzung einiger weniger sein. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen nicht erst als Träger_innen von Nationalität und Staatsbürgerschaft gesellschaftliche Rechte und Möglichkeiten zur Teilhabe erlangen. Wir wollen eine befreite Gesellschaft jenseits (national-)staatlicher Grenzen und Verwertungskalkül. Der Kampf um Befreiung, aus dem diese Gesellschaft hervorgehen kann, ist zwingend ein Kampf gegen Rassismus und Nationalismus, gegen das Hitler-und-Höcke-Deutschland, wie auch das „gute Deutschland“, das freundlich lächelt, während es die Migrationsrouten nach Europa zu Todeszonen aufrüstet, das noch jede Diktatur unterstützt, wenn sie sich nur als Türsteher an den Grenzen Europas bewähren und das allen, die es trotzdem schaffen, das Leben zur Hölle macht. Dieser Kampf gegen die extreme Rechte und den strukturellen Rassismus ist unumgänglich, denn die Lage ist todernst. Als mutiger Tabubruch inszeniertes rassistisches Dauerfeuer, das Auftreten von Pegida und Co. und der Vormarsch reaktionärer Krisenideologien bewirken einen gesellschaftlichen Klimawandel. Es ist eine einfache Gleichung: Wenn Lichtenhagen, Solingen und Mölln zum NSU führten, wohin führt uns dann die Gegenwart?
Am 11. Juli auf die Straße
2018 – Sieben Jahre nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ist von der „schonungslosen Aufklärung“, die Kanzlerin Merkel den Angehörigen versprochen hatte, kaum etwas eingelöst. Die stattgefundene Aufklärung verdankt sich kritischen Journalist_innen, antifaschistischen und antirassistischen Initiativen sowie der Nebenklage im Prozess. Der Staat und seine Repressionsorgane begnügen sich mit einer eng gefassten juristischen Aufarbeitung und blockieren weitergehende Untersuchungen insbesondere zur Rolle deutscher Geheimdienste im Aufbau militanter Nazistrukturen und der Frage, welche Rolle der strukturelle Rassismus in den Behörden und der Gesellschaft für die Taten und die fehlende Aufklärung spielt. Auch im Jahr Sieben nach seiner Selbstenttarnung sind dutzende bekannte NSU-Unterstützer_innen noch nicht einmal angeklagt. Die Morde des NSU sind aber nicht zu verstehen ohne den gesellschaftlichen Rassismus in den Blick zu nehmen. Wenn wir am Ende des NSU-Prozesses auf die Straßen Münchens gehen, dann demonstrieren wir für die Aufklärung des NSU-Komplexes und gegen die Bedingungen, die die rassistischen Morde ermöglicht haben und rechten Terror bis heute begünstigen. In Solidarität mit Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter und den unzähligen, meist namenlosen Opfern rassistischer Gewalt und rechten Terrors.
11. Juli München:
Kundgebung: Ab 8 Uhr
Demonstration ab 18:00 Uhr

am Gericht, Nymphenburger Str. 16
alle wichtigen Infos: nsuprozess.net