In der Nacht des 2. Juni wurde der Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in der Nähe von Kassel hinterrücks erschossen. Der Mord glich einer Hinrichtung. Der mutmaßliche Mörder, Stephan E., ist seit fast drei Jahrzehnten in der Neonnaziszene aktiv. 1992 stach Stephan E. in Wiesbaden einen Mann mit einem Messer nieder. 1993 verübte er einen Sprengstoffanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft Hohenstein-Steckenrodt. Wäre es den Bewohner_innen der Unterkunft nicht gelungen, den Sprengsatz rechtzeitig zu entschärfen, es hätte wohl Tote und Schwerverletzte gegeben. Schon damals zeigte Stephan E. worauf er aus ist: auf den Tod von Menschen. Er tat genau das, was Nazis tun, wenn wir sie nicht mit aller Gewalt daran hindern: Menschen ermorden. Geflüchtete, Migrant_innen, politische Gegner_innen und viele weitere stehen auf den Abschusslisten der Nazimörder.
Doch Stephan E.s gewaltvolle Biographie ging weiter. Im Knast griff er einen migrantischen Mitgefangenen mit einer Eisenstange an und verletzte ihn. 2009 war Stephan E. Teil eines Nazimobs, der zum 1. Mai eine gewerkschaftliche Kundgebung angriff. Auch hier wurden Menschen verletzt.
Laut den Sicherheitsbehörden war er danach aus der Szene verschwunden. Es ist investigativer antifaschistischer Recherche zu verdanken, dass wir wissen, dass dem nicht so ist. Erst im März dieses Jahres nahm Stephan E. gemeinsam mit Kasseler Neonazis an einem konspirativen Treffen der Nazi-Terrororganisation Combat 18 in Sachsen Teil. Combat 18 bildet den bewaffneten und unmittelbar terroristischen Arm der Naziorganisation Blood & Honour. Es sind dieselben Strukturen aus denen sich auch der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU, und sein Unterstützer_innen-Umfeld rekrutierte.
Demselben NSU, der 2006 in Kassel in Anwesenheit des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme Halit Yozgat ermordete. Derselbe NSU dessen Unterstützer_innen-Umfeld von den Behörden bis heute nicht ausermittelt, geschweige denn angeklagt wurde. Erst gestern wurde bekannt, dass Walter Lübcke, das Opfer der feigen Nazimörder, auch auf der Todesliste des NSU stand. Jahre bevor er 2015 zum Hassobjekt von Pegida, PI-News und AfD wurde. Seit der Selbstenttarnung des NSU haben Antifaschist_innen durchgehend die Aufklärung über die Strukturen in und um den NSU gefordert. Der Staat und seine Institutionen, insbesondere der Verfassungsschutz und die Bundesanwaltschaft haben alles getan, um diese weitergehende Aufklärung und Strafverfolgung zu verhindern. Im Falle des Verfassungsschutzes vor allem, weil er zahlreiche Mitarbeiter und Spitzel im engsten Umfeld des NSU hatte, und es nun galt, die eigene Haut zu schützen. Dass nun der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke aus genau diesem Spektrum stammt – ein Spektrum in dem wir auch weiterhin viele Mitarbeiter_innen und Zuträger_innen des Verfassungsschutzes vermuten können – macht uns umso wütender.
Die konsequente Aufklärung und Strafverfolgung des NSU-Umfelds, auch seiner geheimdienstlichen Strukturen, hätte den Mord an Walter Lübcke und die Gefahr für tausende Menschen unter Umständen verhindern können. Es gibt nur eine Konsequenz aus dem NSU: Verfassungsschutz auflösen.
In den letzten Tagen war in der Presse viel zu lesen von „braunen Schläfern“ und „einer neuen Dimension rechten Terrors“. Nichts davon ist wahr: der rechte Terror war auch nach dem NSU allgegenwärtig, in Deutschland und weltweit. Wer ihn nicht gesehen hat, hat mit aller Gewalt die Augen vor ihm verschlossen. Im März dieses Jahres erschoss ein Naziterrorist im neuseeländischen Christchurch 51 Besucher_innen zweiter muslimischer Gottesdienste. Vergangenen Herbst erschoss ebenfalls ein Nazi in Pittsburgh in den USA elf Menschen, die an einem Shabat-Gottesdienst in einer Synagoge teilnahmen. 2016 erschoss ein rassistischer Attentäter in und um das Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen. In Brasilien und
Großbritanien gab es die rechten Morde an Marielle Franco, Anderson Gomes und Jo Cox. In Deutschland gab es ab 2015 eine Welle unzähliger gewalttätiger Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Hinzu kommen die Angriffe auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker und den Altenaer Bürgermeistern Andreas Hollstein. Beide Taten haben Ähnlichkeiten mit dem Mord an Walter Lübcke. Alle Opfer sind parteipolitisch konservativ und alle Opfer wurden für ihre – vermeintlich oder real – liberale Geflüchtetenpolitik angegriffen. Hollstein und Reker überlebten glücklicherweise, Walter Lübcke ist nun dem Naziterror zum Opfer gefallen.
Es gibt keine „neue Dimension rechten Terrors“ und „keine braunen Schläfer“ – es ist schlimmer. Rechter Terror war und ist seit Jahren und Jahrzehnten gegenwärtig – vor dem NSU, während dem NSU und auch nach dem NSU. Und Stephan E., der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke – war weder Schläfer noch Einzeltäter. Er war bis zuletzt in offen rechtsterroristischen Strukturen aktiv. Er war seit Jahrzehnten auch ideologisch eingebunden.
Das macht es umso wichtiger, nun nicht nur gegen ihn zu ermitteln, sondern die Unterstützer_innen-Strukturen aufzudecken und auszuschalten. Wir haben Fragen: Wer war mit dabei, wer hat die Tat ideologisch und logistisch unterstützt, wer war neben Stephan E. mit am Tatort, wer hat das Opfer ausgewählt, den Tatort ausgespäht, die Entscheidungen getroffen?
Wir haben diese Fragen – und viele Fragen mehr. Die Antworten erwarten wir uns weder von Bundesanwaltschaft noch von den Verfassungsschutzbehörden, sie tragen seit Jahrzehnten dazu bei, rechten Terror kleinzureden, auf isolierte Einzeltäter zu schieben und die Netzwerke, die rechten Terror ermöglichen, nicht anzugehen. Der Verfassungsschutz sogar zu mehr, er gehört in vielen Fällen zum Netzwerk und den Strukturen, die rechten Terror erst ermöglichen und hervorbringen. Unser Vertrauen liegt nicht auf den staatlichen Geheimdienst und Ermittlungsbehörden, es liegt in antifaschistischer Recherchearbeit, bei kritischen investigativen Journalist_innen, engagierten Anwält_innen und der kritischen Öffentlichkeit.
Auch, wenn wir es nicht mit einer neuen Dimension rechten Terrors zu tun haben, scheint etwas neu zu sein am Mord an Walter Lübcke. Die Nazischweine, die Migrant_innen und Geflüchtete ermorden, nehmen nun verstärkt auch staatliche und politische Repräsentant_innen ins Visier,
wenn diese sich real oder vermeintlich für Geflüchtete und deren unveräußerlichen Menschenrechte einsetzen. Das geht ideologisch und programmatisch einher mit einer Anfeindung gegenüber sogenannten Volksverrätern durch neonazistische und neurechte Gruppen. Wir müssen wachsam sein. Gemeinsam mit allen Betroffenen rechten Terrors müssen wir Solidarität aufbauen und den antifaschistischen Selbstschutz organisieren. Denn dass dieser Staat uns vor Nazigewalt schützt – darauf zu vertrauen wäre naiv.
Wir fordern:
Volle Aufklärung über Stephan E. und sein Umfeld!
Aufdeckung und Zerschlagung aller rechtsterroristischen Strukturen!
Auflösung des Verfassungsschutzes!
Solidarität mit allen Opfern rechter Gewalt und rechten Terrors!