Nichts und Niemand ist vergessen!

Antifaschistische Veranstaltungsreihe anlässlich des 75. Jahrestages der Novemberpogrome
Um den 9. November 2013 findet in München eine antifaschistische Veranstaltungsreihe anlässlich des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht statt. Das Programm umfasst mehrere Vorträge, einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau, sowie einen antifaschistischen Stadtrundgang. Im Mittelpunkt steht hierbei das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
75 Jahre Novemberpogrome
Die Novemberpogrome hatten ihren Ausgangspunkt in München. Nach einer antisemitischen Hetzrede von Joseph Goebbels im Münchner Rathaus in der Nacht vom 9. auf den 10. November begannen auf Befehl der SA-Gauleitungen massenhafte, organisierte Pogrome in ganz Deutschland. Vom 7. bis zum 13. November wurden etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe, über 1400 Synagogen, Betstuben und andere Versammlungsräume wurden zerstört. In der Nacht auf den 10. November fielen in München die Synagogen in der Herzog-Rudolf-Straße und der Reichenbachstraße den Flammen der Nazis zum Opfer. Die Geschäftsräume der Israelitischen Gemeinde wurden komplett verwüstet. Durch bereitwilliges Mitmachen oder aktives Wegschauen bzw. Nicht Eingreifen zeigten weite Teile der Bevölkerung ihre Bereitschaft, die antisemitische und rassistische Politik der Nazis mitzutragen.
München als „Hauptstadt der Bewegung“
Dass München zentraler Ausgangspunkt der Reichspogromnacht war, ist nicht verwunderlich. Die Geschichte der Stadt München war schon weit vor der Machtübernahme 1933 eng mit antisemitischen Bewegungen verbunden, im Speziellen mit der nationalsozialistischen.
So gründete sich hier noch vor Ende des ersten Weltkrieges die so genannte „Thule-Gesellschaft“, die sowohl ideologisch als auch personell als eine der wichtigsten Vorläuferorganisationen der NSDAP gilt. Sowohl der ideologische Vordenker des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg, als auch der Herausgeber des NS-Organs „Der Stürmer“ Julius Streicher hatten hier ihre politischen Wurzeln. Aus dem Umfeld der Organisation, die sich von 1919 bis 1924 im Hotel „Vier Jahreszeiten“ versammelte, stammte auch der Student Anton Graf von Arco auf Valley, der am 21. Februar 1919 den sozialistischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner ermordete.
Auch die Geschichte von Adolf Hitlers politischer Laufbahn ist eng mit der Stadt München verbunden. Am 9. November 1923 – dem fünften Jahrestag der antimonarchistischen Räterevolution – initiierten Hitler und das ehemalige Mitglied der „Obersten Heeresleitung“ General Erich Ludendorff einen Putschversuch, der an der Feldherrnhalle am Odeonsplatz von der Münchner Polizei niedergeschlagen wurde.
Auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 übernahm München eine Vorreiterrolle als eine der fünf so genannten „Führerstädte“. So wurden beispielsweise weit vor der Einführung der offiziellen Reichsrichtlinien Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen jüdischer Eigentümer unterbunden. Dabei erstellte die Stadtverwaltung unter der Führung des Oberbürgermeisters Karl Fiehler ein Verzeichnis jüdischer Gewerbetreibender, das bei den späteren Pogromen und der so genannten „Arisierung“, dem legaliserten Raub am Besitz jüdischer Menschen, verwendet wurde.
Die Münchner Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße wurde bereits am 24. Juni 1938 – schon einige Monate vor den Novemberpogromen – auf Befehl der Nazis abgerissen. Zur Begründung wurden verkehrstechnische Vorwände angeführt. Hiervon profitierte die bis heute existierende Baufirma Leonhard Moll, deren Firmeninhaber mit vielen anderen zu den Profiteuren von „Arisierung“ und Vernichtungspolitik der Nazis zählte. Nach ihm ist seit 1990 eine Straße am Hansapark benannt.
Antisemitismus: Von der Ausgrenzung zur Vernichtung
Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 kam es zu ersten Boykottaktionen jüdischer Geschäfte; jüdische Kinder und Jugendliche wurden aus Schulen ausgeschlossen, da diese angeblich überfüllt seien, Studierende und Lehrende mussten Universitäten verlassen. Mit den 1935 erlassenen „Nürnberger Rassegesetzen“, welche das so genannte Gesetz zum „Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ und das „Reichsbürgergesetz“ umfassten, wurden unter anderem Eheschließungen zwischen „Juden“ und „Nicht-Juden“ verboten. Jüdischen Menschen wurden Berufsverbote auferlegt und sie wurden nach und nach aus allen gesellschaftlichen Bereichen verdrängt. Zudem wurden Jüdinnen und Juden durch allgegenwärtige verbale Angriffe sowie beispielsweise Schilder an zahlreichen Ortseingängen mit der Aufschrift „Juden sind hier nicht willkommen“ diffamiert.
Im Vorfeld der Novemberpogrome hatten die Nazis eine so genannte Judenkartei angelegt, jüdische Geschäfte markiert und die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen ausgebaut. Die Novemberpogrome von 1938 markierten den Übergang zur systematischen Verfolgung und Gewalt gegen jüdische Menschen im nationalsozialistischen Deutschland.
Der nationalsozialistische Antisemitismus steht in einer langen Tradition. Geprägt durch den christlichen Antijudaismus und dessen Vorstellungen der „Juden“ als „Brunnenvergifter“, „Gottesmörder“ und eines Paktes zwischen ihnen und dem Teufel entwickelte sich in der Moderne der Antisemitismus. Er übernimmt viele der antijudaistischen Bilder, bezieht sich aber nicht mehr nur auf die jüdische Religion, sondern auf moderne rassentheoretische Annahmen. Der Hass auf „die Juden“ ist von nun an vor allem rassistisch. Dabei werden „die Juden“ in der nationalsozialistischen Ideologie zur „Gegenrasse“ erklärt. Die Vorstellungswelt des Antisemitismus imaginiert in „den Juden“ das absolute Gegenteil zur eigenen Gruppe. „Juden“ seien „parasitär“, sie gingen keiner körperlichen Arbeit nach, sondern schöpften den von anderen produzierten Reichtum ab. Gleichzeitig stünden sie hinter den Übeln der modernen Gesellschaft, hinter Kapitalismus und Kommunismus gleichermaßen. Im Gegensatz zu anderen Formen des Rassismus, in denen den rassifizierten und meist kolonialisierten Subjekten Intelligenz, Disziplin, Kultur usw. abgesprochen werden, besäßen „Juden“ ein Übermaß davon. Durch diese Fähigkeiten seien sie in der Lage durch eine gigantische Verschwörung den Lauf der Welt nach ihrem Willen zu lenken. Die nicht verstandene, komplexe moderne Gesellschaft wird so auf einen einzigen Übeltäter reduziert, „den Juden“. Deutlich wird dies etwa in den „Protokollen der Weisen von Zion“, den fiktiven Protokollen einer erfundenen „jüdischen Geheimorganisation“. Die Konsequenz die sich für die Antisemit_innen daraus ergibt, ist der Kampf gegen das Judentum und die Ermordung der jüdischen Menschen, wie sie die Nazis in den Vernichtungslagern praktiziert haben.
Deutschland macht Geschichte
Nach der militärischen Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands wäre zuallermindest eine tiefgreifende Auseinandersetzung um das bereitwillige Mitmachen und Wegsehen eines Großteils der deutschen Bevölkerung geboten gewesen. Anstelle einer Reflektion der eigenen Rolle in Vernichtungskrieg und industriellem Massenmord, dominierten jedoch bald eigene Leiderfahrungen in den Erzählungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dies ermöglichte es ein Bild der Deutschen als ahnungslose “Verführte” zu etablieren, die letztlich durch Vertreibung und Bombardements selbst als Opfer unter vielen anderen gelten konnten.
Die Entnazifizierung, also der Versuch durch Bestrafung der Täter_innen und Entfernung von Nazis aus Wirtschaft, Bildung, Politik und Rechtssystem die Gesellschaft vom Einfluss des Nationalsozialismus zu befreien, wurde früh wieder aufgegeben. Durch den aufkommenden kalten Krieg gewann ein militärisch und wirtschaftlich potentes Deutschland als Grenzstaat zum “Ostblock” eine höhere Priorität als eine entmilitarisierte Musterdemokratie. Dies hatte zur Folge, dass rasch alte Eliten wieder in Führungspositionen, in Chefetagen und an Richtertischen saßen. Die neugegründete Bundeswehr verschaffte etwa 12.000 Offizieren von Wehrmacht und Reichswehr und 300 Offizieren der Waffen-SS ein neues Auskommen, Unternehmen, die wie die Degussa an der Vernichtungspolitik der Nazis verdienten, kurbelten die Wirtschaft an und auch die Polizei konnte auf alte Expert_innen zurückgreifen. Den Opfern des Nationalsozialismus hingegen wurden häufig die Anerkennung als solche und finanzielle Entschädigungen verwehrt, mitunter sogar direkt von einstigen Täter_innen.
Das jährliche Gedenken in Dresden, der große gesellschaftliche Einfluss der Vertriebenenverbände und etwa die Ikonisierung des deutschnationalen Hitlerattentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg sind nur einige Beispiele für die lange Zeit vorherrschende Geschichts- und Gedenkpolitik in Deutschland. Spätestens mit der Rot-Grünen Koalition von 1998 wurden andere Töne angeschlagen. Die Erkenntnis, dass sich aus einer demonstrativen Aufarbeitung deutscher Verbrechen – die heute niemandem mehr weh tun muss – Profit schlagen lässt, verschaffte Deutschland ein moralisches Alleinstellungsmerkmal. So stürzte sich Deutschland mit dem Verweis auf seinen vorgeblich ehrlichen und schmerzhaften Umgang mit der eigenen Geschichte bald wieder in weltweite militärische Unternehmen und konnte seine Bombenabwürfe gerade über die eigene, vorbildlich aufgearbeitete Geschichte legitimieren. Mit der Fähigkeit endlich wieder Kriege zu führen, hatte man sich so eines der letzten Relikte entledigt, welches auf den verlorenen Weltkrieg verwies: der Bundeswehr als reine Verteidigungsarmee.
Dieser Ende der 90er Jahre eingeleitete geschichtspolitische Wandel stellt eine gegenläufige Tendenz zum noch in der Ära Kohl dominanten Revisionismus dar, also dem Bemühen die deutschen Verbrechen zu relativieren und diejenigen rein zu waschen, die sie verübten. Es ist wichtig zu betonen, dass dieser Paradigmenwechsel keine vollständige Abkehr von revisionistischen Tendenzen und dem Ruf nach einem endlich zu zeichnenden Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit bedeutet. Geschichts- und Erinnerungspolitik in Deutschland 2013 lässt sich vielmehr begreifen als Spannungsverhältnis dieser beiden diskursiven Verfahren, die strategisch und situativ eingesetzt werden können. Allen Prämissen des selbsternannten Aufarbeitungsweltmeisters zum Trotz ist es bspw. Unionspolitiker_innen in Zeiten des Wahlkampfs unbedenklichsagbar mit polternden Thesen am rechten Rand zu fischen. In Mittenwald, Reichenhall und anderen Orten kann die Bundeswehr in relativer Ungestörtheit ihrer militaristischen Tradionspflege nachgehen, wohingegen etliche von der Wehrmacht als ihrer Vorgängerorganisation verübte Verbrechen immer noch ungesühnt bleiben und die deutsche Justiz so einiges unternimmt noch lebende, im Ausland rechtskräftig verurteilte Täter_innen vor Strafverfolgung zu schützen. Doch scheint der Weg des Erinnerns und Gedenkens zumindest auf außenpolitischer Ebene letztlich doch erfolgreicher zu sein. So gegensätzlich beide Strategien sind, in ihrem anvisierten Ziel, dem Ablegen der durch den nationalsozialitischen „Ballast“ bedingten Einschränkungen, nähern sie sich vielfach an.
Einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte, der es um ein geläutertes, gutes Deutschland mit Mandat zum Demokratie-Export durch Kampfjets geht, können wir kaum mehr abgewinnen, als der geschichtsrevisionistischen Variante, die von Opas Verbrechen nichts wissen will. Das ist ein Grund, weshalb wir uns eine verstärkte Intervention seitens einer antifaschistischen Linken in die Gedenkpolitik wünschen würden. Ein Thema, dass unseren Erachtens – und hier wollen wir uns nicht ausnehmen – in den täglichen Kämpfen häufig untergeht. Wir sind vermutlich die letzte Generation, die in direkten Kontakt mit Überlebenden und Zeitzeug_innen kommt, während im Zuge der bayerischen Schulreform der Geschichtsunterricht zusammengestrichen wird und vor allem beim Thema Nationalsozialismus der Rotstift zum Einsatz kommt und Ministerpräsident Seehofer einen bundesweiten Gedenktag für die deutschen „Heimatvertriebenen“ einfordert.
Zentral bei der Erinnerung an die unbegreiflichen Gräuel des Nationalsozialismus, sind Trauer um die Opfer und auch die Konsequenz, unser Handeln darauf auszurichten, dass sich dergleichen niemals wiederhole. Denn die Grundelemente nationalsozialistischer Ideologie sind sowenig aus der Welt, wie sie durch die nationalsozialistische Ideologie erst entstanden wären. Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus durchdringen nach wie vor die Gesellschaft.
Mit der Veranstaltungsreihe möchten wir ein Zeichen setzen gegen Gleichgültigkeit und Vergessen, gegen die Verharmlosung deutscher Schuld und Verantwortung, gegen Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus. Für ein würdiges Erinnern an alle Opfer des Nationalsozialismus.